Wie eine wundersame Laterne leuchtet das Ferienhaus des Architekten Davide Macullo und der Unternehmerin Oksana Kudin mitten im idyllischen Bergdorf Rossa im wilden Calancatal: eine Skulptur auf 1100 Metern Höhe. Kein Wunder, das Refugium trägt die farbenfrohe Handschrift des französischen Konzeptkünstlers Daniel Buren.
Das Calancatal gehört zu den abgeschiedensten Tälern der Schweiz. Reisende, die sich auf ihrer Fahrt von Italien nach Norden kurz nach Bellinzona entscheiden müssen, ob sie die Alpen durch die San Bernardino-Route oder den Gotthardtunnel überqueren, wissen meist nicht, dass es parallel zwischen den beiden wichtigen Verkehrswegen ein wildes, verwunschenes Tal zu entdecken gäbe. Sein Taleinschnitt liegt gut versteckt hinter einer mächtigen Felsformation im Misoxer Tal, danach windet sich die Strasse entlang der steilen Berghänge immer weiter hinauf, während unten in der furchterregenden Tiefe der Fluss Calancasca vorbeirauscht. Erst nach dem Bergdorf Grono eröffnet sich der freie Blick ins pittoreske Tal mit seinen funkelnden Wasserfällen, satten Bergwiesen und dichten Wäldern. «Wer die majestätische, raue Schönheit der Berge und die wilde, ursprüngliche Kraft der Natur liebt, findet kaum ein schöneres Bergtal in den Schweizer Alpen», behauptet der Luganeser Architekt Davide Macullo.
Zwanzig Jahre lang betreute er verschiedene Architekturprojekte von Mario Botta auf allen Kontinenten. Das Calancatal hingegen verkörpert für ihn ein Stück Heimat: Von hier stammen seine Vorfahren, hier baute er sein erstes Haus für seinen Bruder. «Seit meiner Kindheit ist dies mein Paradies», schwärmt er, «hier finde ich die nötige Ruhe und die Kraft zum Leben.» Ähnlich erging es der Unternehmerin Oksana Kudin: «Beim ersten Besuch im Calancatal fühlte ich mich an meine Kindheit in unserem Ferienhaus in den Karpaten erinnert. Seine Abgeschiedenheit, die Stille des Ortes und die klare Luft haben mich genauso fasziniert wie die unberührte Landschaft.» In der Ukraine aufgewachsen, lebte sie später in Holland und zog vor einigen Jahren mit ihren drei Mädchen Sofia, Frida und Liza ins sonnige Lugano. Nachdem sie zusammen mit dem Architekten ihre repräsentative Stadtwohnung umgebaut hat, träumte sie von einem Ferienhaus abseits allen Rummels. «Es sollte jedoch ganz anders sein als das eigentliche Zuhause – wir wollten dort sehr einfach leben können und uns in dieser Schlichtheit geborgen fühlen», erzählt sie. Der Vorschlag von Davide Macullo, gemeinsam ein Ferienhaus im höchstgelegenen Bergdorf Rossa im Calancatal zu bauen, war ihr mehr als willkommen: «Nach der langen Umbauphase wollte ich nicht schon wieder allein als Bauherrin alles entscheiden müssen.» Sie erstanden zusammen ein 350 Quadratmeter grosses Grundstück mitten im Dorf. Was danach kam, war für Oksana eine Überraschung. «Als ich die ersten Skizzen und dann das Modell erblickte, dachte ich, es wäre ein Scherz», erzählt sie freimütig. Doch die Phantasie und das Können des Architekten konnten sie von dem ungewöhnlichen Projekt schliesslich doch überzeugen. Heute ist sie glücklich, in diesem originellen Haus zu leben.
«Dieses Haus sollte ein Märchenobjekt werden, das sich an der Natur orientiert», erklärt Davide Macullo. Schon von Weitem erahnt man seinen kreuzförmigen Grundriss – wobei das vierstöckige Gebäude in einem «verdrehten» Dach gipfelt. In seinem Projekt habe er das Haus so interpretiert, wie es Kinder gerne zeichnen: zwei senkrechte und zwei waagrechte Linien, zwei schräge darüber für das Dach und Löcher als Fenster. «Dies ist dasselbe, aber völlig anders. Es ist ein neu erfundener Archetyp.
Die komplette Architekturreportage ist im Magazin RAUM UND WOHNEN zu lesen. Die Ausgabe 06-07/2019 lässt sich online bestellen.
Künstler-Kollaboration fürs Tal
Das Haus in Rossa ist ein Werk auf der Schwelle zwischen Kunst und Architektur – eine lebendige, öffentliche Skulptur. Zusammen mit Mario Cristiani von der Galleria Continua und der Associazione Arte Continua gründete der Architekt Davide Macullo die gemeinnützige Stiftung RossArte. Der Stiftungszweck sieht vor, auf dem Gebiet der Gemeinde Rossa ein Konzept für eine bedeutende künstlerische Präsenz zu entwickeln. Somit würde das ganze Calancatal von dem vermehrten Tourismus – besonders in Verbindung mit der Kunst- und Kulturwelt – profitieren. Die Stiftung sieht vor, die vorhandenen Kirchen zu renovieren und mit zeitgenössischer Kunst von David Tremlett zu bestücken, Studios für Künstler zu errichten und der Öffentlichkeit eine Bibliothek der Kunst zugänglich zu machen. Zudem sollte auf dem Gemeindegebiet neuer Wohnraum für junge Familien entstehen, der die Rückwanderung ins Tal begünstigen sollte.
Architektur:
DAVIDE MACULLO ARCHITECTS
6900 Lugano
Text und Produktion: Kay von Losoncz, Fotos: Laura Egger
aus: Raum und Wohnen, Heft Nr. 6-07/2019