Sie ist noch immer eine Berghütte und doch auch viel mehr als das: Die neue Kraftalm in den Kitzbüler Alpen ist ein Ort, der jegliche Störfaktoren, allen Lärm und Stress, verbannt und einen Augenblick – oder auch mehrere – des vollkommenen Bei-sich-Seins erlaubt.
Gute zwei Stunden sind wir von Itter bis hier herauf gewandert, haben den Duft des Waldes eingeatmet, die Flora am Wegrand bestaunt und ja, auch ordentlich geschwitzt. Angekommen gibt es auf der grosszügigen Terrasse der «Kraftalm» ein Stiegl vom Fass, das im Gaumen prickelt, wie es eben nur ein Frischgezapftes nach einem ordentlichen Aufstieg kann. Unser Gepäck ist bereits hier, es kam mit der Salvistabahn, die nur acht Minuten vom Tal bis zur Mittelstation braucht. Doch wer die Besonderheit des Ortes in all seiner Schönheit erfahren will, sollte es uns gleichtun und zu Fuss aufsteigen.
Natürlich ist es keine Überraschung, dass uns hier keine typische Alm mit Massenlager und Gemeinschaftsbad erwartet. Wir kennen die Bilder des modernen Baus, den die junge Generation der Familie Hölzl, die beiden Schwestern Marion und Evelyn, verwirklicht haben. Die ehemalige Skihütte ist 2021 einem Gästehaus gewichen, das modernen Komfort am Berg bietet – jedoch ohne dabei seine Authentizität zu verlieren. «Der Alpfelstrudel wird schon seit 40 Jahren so und nicht anders gebacken», erklärt uns Marion, die uns sofort das Du anbietet. «Am Berg, da gibt's kein Sie», ein Satz, der auch eine Art Motto für das Haus ist, denn das Du schafft genau die familiäre und persönliche Atmosphäre, die Familie Hölzl an der Hohen Salve haben will: Man fühlt sich auf der «Kraftalm» schnell wie zuhause.
Den wundervollen Namen hat übrigens kein Marketingstratege erdacht, er stammt von der Vorbesitzerfamilie, die schlichtweg Kraft hiess. Das ist allerdings fünf Generationen her. Seitdem hat sich einiges getan hier oben auf 1355 Metern – vor allem seit Evelyn und Marion das Ruder übernahmen. «Mit dem Bau der neuen Gondelbahn kam der Zeitpunkt, wo wir uns überlegen mussten, wie es weitergehen soll», erzählt letztere. Neben der neuen Mittelstation sollte eine neue «Kraftalm» entstehen. Der Familienrat tagte und zog alles Mögliche in Betracht, von der einfachen Hütte bis zum klassischen Hotel. Entstanden ist schliesslich ein Mix, den es so wohl kein zweites Mal gibt: ein Bergrefugium mit 29 Zimmern, Restaurant, Panorama-Almwellness und einer grossen Terrasse für Tagesgäste. Dazu ein Nebengebäude mit Kuhstall und Ferienwohnungen. «Wir haben lange überlegt», sagt Marion, «und einige Architekten kontaktiert.» Ihre Vision realisierten die Schwestern schlussendlich mit dem Salzburger Architekten Franz Kirchmayr. «Er hat einfach die Stimmung verstanden, die wir uns vorgestellt haben.»
Der Grundriss des Gebäudes gleicht einem «K», die einzelnen Flügel zeigen in unterschiedliche Richtungen und sind nicht wie so oft zu einer Hauptseite hin ausgerichtet. «Hier gibt es nur Schokoladenseiten», sagt Marion. Und tatsächlich, beim Frühstück blicken wir auf die Hohe Salve, während sich uns beim Saunagang ein einzigartiger Blick auf den Wilden Kaiser eröffnet. Im Infinity-Pool, der übrigens aus (beheiztem) Bergwasser der eigenen Hausquelle gespeist wird, schwimmen wir ihm entgegen und staunen über die Erhabenheit des Ortes zwischen Himmel und Kitzbüler Alpen. Der Stress bleibt im Tal und man ist ganz im Augenblick. Beton trifft auf Holz und Leder, die Natur strömt durch grosszügige Glasflächen hinein. Doch der Geist der alten Kraftalm ist nicht verschwunden, blitzt hier und da im Altholz von Brettern und Schindeln durch oder in den Wellness-Taschen, die aus den Vorhängen des Vorgängerbaus genäht wurden.
Später am Abend lassen wir uns nach all der Entspannung gern von Evelyns
köstlicher Alpenküche verwöhnen. Trotz ihrer jungen Jahre weiss die
Kulinarikchefin sehr genau, welches Rezept Bestand haben muss und
welches modern abgewandelt werden darf. Ganz offen steht ihre Küche
mitten drin im Restaurant. Weil's einfach kommunikativer ist und jeder
sehen darf, welch wertige Zutaten hier verwendet werden.
Die
letzten Stunden vorm Zubettgehen verbringen wir eingemummelt in leichte
Decken auf der Terrasse. Die Lichter im Tal blinken uns entgegen,
nachdem die Sonne sich mit orangerotem Himmel verabschiedet hat. Der
erste Stern leuchtet auf, dann zehn, fünfhundert, ein ganzer Himmel
voll. Wer die Nacht auf der Kraftalm verbringt und nicht nur auf eine
Jause vorbeischaut, kann hier im wahrsten Sinne des Wortes Kraft tanken.
Uns wird sie noch lange in Erinnerung bleiben.
KRAFTALM
Text: Kirsten Höttermann, Fotos: Defrancesco Photography
aus: Raum und Wohnen, Heft Nr. 12/22•01/23